Eine gequälte Seele – ein Mensch, der sich in einer ausweglosen Konfliktsituation glaubt, hat verschiedene Möglichkeiten, Erleichterung zu suchen. Eine davon ist die, in Krankheit auszuweichen. Wenn er sich dazu sein Sehsystem aussucht, kann es zu teilweisem oder vollständigem Verlust der Sehleistung kommen, ohne dass eine organische Ursache erkennbar wird.
Lisa kommt als 13-Jährige erstmals Mal in die Praxis des Augenarztes Dr. W. Zu der Zeit lebt sie in einer norddeutschen Großstadt in einem Heim für Waisen und Kinder aus sozial zerrütteten Familien. Lisa ist auffallend klein für ihr Alter und auffallend weit entwickelt - ein dunkelhaariger mediterraner Typ. Sie erweist sich als sehr wortkarg und sehr scheu, sagt nur: „Ich sehe schlecht, so verschwommen.“
Die augenärztliche Untersuchung ergibt eine beidseitige Amblyopie, eine unkorrigierbare Schwachsichtigkeit – entstanden, weil ein früh aufgetretener Sehfehler (Übersichtigkeit und Stabsichtigkeit) nicht rechtzeitig mit einer entsprechenden Brille ausgeglichen worden war. Ihre erste Brille hatte sie erst mit neun Jahren bekommen, viel zu spät, denn in diesem Alter ist die Entwicklung der Sehschärfe längst abgeschlossen. Außerdem hatte Lisa die Brille sowieso nie getragen. Ihre Sehschärfe mit Brille liegt zwischen 50 und 60 Prozent und mehr lässt sich auch mit anderen Gläsern nicht mehr erreichen. Das genügt gerade eben für den PKW-Führerschein, sofern bis dahin keine anderen, die Sehleistung mindernden, Probleme hinzukommen. Dr. W. erklärt Lisa, wie es um ihre Augen steht, dass er ihr eine neue Brille verordnet und dass sie die tragen muss, auch wenn sich dadurch an ihrer Amblyopie leider nichts mehr ändert.
Im Laufe der nächsten Jahre sucht Lisa hin und wieder ihren Augenarzt auf. Die Befunde zeigen – wie zu erwarten – keine Veränderungen. Die treten dann allerdings sehr dramatisch auf, als Lisa im Alter von knapp 16 eine Lehre beginnen will. Verstört schildert sie Dr. W. ihre Probleme: „Ich sehe so gut wie nichts mehr, dauernd remple ich Leute an, stoß mich an Ecken und hab ständig blaue Flecken.“
Die Untersuchung erbringt eine schockierend starke konzentrische Gesichtsfeld-Einschränkung, in etwa vergleichbar mit dem „Tunnelblick“, der symptomatisch für Retinitis pigmentosa ist. Nur lässt sich für Lisas Sehverlust, der ihr Gesichtsfeld auf fünf bis zehn Grad verengt, keine organische Erklärung finden. Mit Ausnahme der bekannten Amblyopie sind alle Befunde normal. Dr. W. ist fast sicher, dass Lisas schwere Sehbehinderung, die an der Grenze zur Blindheit liegt, psychische Ursachen hat. Vorsichtshalber überweist er aber seine Patientin an verschiedene Kliniken zu neurophysiologischen Untersuchungen: EEG (Elektroenzephalographie) und ERG (Elektroretinogramm). Sie erbringen ausschließlich Normalbefunde. Wie Lisas Augenarzt und die Spezialisten in den Kliniken stellen auch inzwischen eingeschaltete Psychologen die Diagnose: psychogene Sehstörung – nahe an der Blindheit.
Auf die Konfrontation mit der Tatsache, dass ihr Sehproblem seelischen Ursprungs ist und dass es ratsam wäre, sich in psychotherapeutische Behandlung zu begeben, reagiert Lisa mit heftiger Abwehr: „Das mache ich nicht. Ich bin doch nicht verrückt!“
Ihre fast aggressive Reaktion lässt sich damit erklären, dass ihre Mutter hoch schizophren war und ständig in einer geschlossenen Fachklinik leben musste.
Lisa lehnt jede Hilfe dieser Art standhaft ab. Auch ihrer Vertrauens- und Bezugsperson in dem Heim, in dem sie immer noch wohnt, gelingt es nicht, Lisa davon zu überzeugen, dass eine psychotherapeutische Aufarbeitung notwendig wäre. Sie erfindet immer wieder geschickte Ausreden, um gerade jetzt die Psychotherapie nicht beginnen zu müssen.
Ihre Einstellung ändert sich schlagartig, als sie mit knapp 18 Jahren unbedingt den Führerschein machen möchte. Dr. W. erklärt ihr, warum das bei ihrer Sehbehinderung (Gesichtsfeld fünf bis zehn Grad und Sehschärfe von 50 Prozent) völlig unmöglich ist. Die gleiche Auskunft bekommt sie von der Fahrschule. Damit gibt sie sich nicht zufrieden, sie erzwingt eine Stellungnahme von einem Obergutachter.
Erst jetzt, nachdem ihr Antrag endgültig abgelehnt ist, vertraut sie ihrem Augenarzt an, dass es etwas gibt, was sie sehr belastet. Aber eigentlich könne sie mit ihm nicht darüber sprechen, doch sie sei bereit, es mit der Psychotherapie zu versuchen. Es wird eine körperbetonte Therapieform gewählt, bei der die Patienten ermutigt werden, Aggressionen und Emotionen in Körperbewegungen auszudrücken und ihre Verzweiflung auch laut herauszuschreien. Bei Lisa ist es der sexuelle Missbrauch, den sie im Alter zwischen drei und fünf Jahren durch Vater und Onkel erlitten hat.
Diese Psychotherapie hat drei Jahre gedauert – vom 18. bis ins 20. Lebensjahr hinein. Lisas „Tunnelblick“ ist vollständig behoben, ihr Gesichtsfeld hat sich wieder auf Normalzustand erweitert – objektiv dokumentierbar. Nur die Amblyopie mit der auf 50 Prozent verminderten Sehschärfe ist natürlich geblieben, denn die hat rein organische Ursachen. Bereits während der Therapie hat Lisa eine Stelle in einem Altenheim als Küchen- und Stationshilfe angenommen und im Verlauf des sich ständig reduzierenden zuvor massiven Sehproblems eine Ausbildung als Hauswirtschaftlerin begonnen. Jetzt ist sie Ende 30, arbeitet nach wie vor in diesem Beruf, ist relativ zufrieden, hat soziale Kontakte aufgebaut, Freundinnen und Freunde gewonnen, lebt aber nach wie vor allein. Sie ist immer noch sehr klein, erscheint auch von der Physiognomie her eher wie eine 15-Jährige, aber auch ihr Minderwuchs lässt sich nicht auf organische Ursachen zurückführen.
Von Zeit zu Zeit leidet Lisa auch heute noch unter depressiven Schüben, die als Symptomwandel zu sehen sind und immer wieder der Behandlung bedürfen. Ihr Kindheitstrauma lässt sich eben nicht einfach auslöschen. Sie hat jedoch gelernt, besser damit umzugehen und sie hat erfahren, dass sie durchaus liebenswert ist und auch Anerkennung findet und vor allem schuldlos ist an dem Inzest-Geschehen.
Das hatte wohl dazu geführt, dass sie – um im Alter aufkeimender und immer bedeutsam werdender eigenen Sexualität überleben zu können – diese unerträglichen Gefühle abwehrte, indem sie große Teile ihres Gesichtsfeldes ausblendete, damit sie diese schmerzhaften Bilder nicht mehr wahrnehmen musste. Dieses Verhalten bezeichnet man als Konversionsreaktion (Umwandlung in Körperlichkeit). Das kann im Kindesalter ein angemessener Schutz sein, der aber im Erwachsenen-Alter – wo sich dieses Verhaltensmuster fest eingeprägt hat – nicht mehr angemessen ist. Es hat sich sozusagen verselbstständigt.
Für Lisa war die Bewusstmachung dieses alten Geschehens ungemein schmerzhaft und hat fast ein Jahrzehnt gedauert. Aber sie ist als Gewinnerin daraus hervorgegangen.
Fazit: Immer, wenn bedeutsame Sehverschlechterungen organisch nicht erklärbar sind, wird der Augenarzt an eine psychogene Sehstörung denken, die sich in allen Schweregraden bis hin zur Blindheit ausdrücken kann. Eine psychotherapeutische Aufarbeitung hat hier meist eine gute Prognose.
Dr. med. Volkhart Brethfeld
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