„Geht es auch ohne Arzt?“, „Doktor Algorithmus, sag mir was ich hab“, „Ersetzt der Computer bald den Augenarzt?“ – solche Schlagzeilen sind seit einiger Zeit immer wieder zu lesen. Künstliche Intelligenz hält Einzug in das Gesundheitswesen – auch und gerade in der Augenheilkunde. Schon heute gibt es Anwendungen, die für die Diagnose von Netzhauterkrankungen eingesetzt werden können. Augenärzte fürchten keineswegs, dass „Doktor Algorithmus“ sie arbeitslos machen wird.
Was ist künstliche Intelligenz?
Zunächst gilt es, einige Begriffe zu erläutern. Der Begriff „Künstliche Intelligenz“ (KI) wurde in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts für einen Bereich der Informatik geprägt. Dabei wird versucht, einen Computer so zu bauen oder zu programmieren, dass er eigenständig und menschenähnlich Probleme bearbeiten kann. „Machine Learning“ als Teilgebiet der KI lässt den Rechner selbstständig Algorithmen entwickeln, die generalisierte Prinzipien aus den vorliegenden Daten extrahieren. Dies steht im Gegensatz zur konventionellen Programmierung, die nach von Menschen vorgegebenen Regeln Daten analysiert. „Deep Learning“ geht dabei noch weiter, indem es die biologischen Strukturen des Nervensystems nachahmt („neuronale Netze“) und die Analyse durch Transformation und Abstraktion des Signals in mehreren Schichten zwischen Eingabe und Ausgabe durchführt.
Etwa seit dem Jahr 2015 haben die rasanten Fortschritte der Computertechnologien es ermöglicht, dass „Deep Learning“ in der Bilderkennung den menschlichen Fähigkeiten nahe kam.
KI kann man besonders gut dort einsetzen, wo klar definierte Fragestellungen auf Daten angewendet werden, die die notwendigen Informationen enthalten. Das Prinzip beruht darauf, einen lernenden Algorithmus zunächst mit einem Trainingsdatensatz zu formen. Von der Qualität und Größe dieses Datensatzes hängt dann die Qualität und Anwendbarkeit des „Deep Learning“-Algorithmus ab.
KI in der Medizin
In einigen Fachbereichen der Medizin gibt es bereits Anwendungen, die auf KI basieren: In der Dermatologie lässt sich die Erkennung von Hautkrebs damit verbessern; in der Radiologie kommt sie zum Einsatz bei der Diagnose von Lungenentzündungen und in der Onkologie wird sie beim Mammographie-Screening eingesetzt. Auch in der Pathologie hilft KI bei der Diagnose maligner Tumore und in der Kardiologie kann sie Veränderungen im Elektrokardiogramm (EKG) erkennen.
KI in der Augenheilkunde
In der Augenheilkunde bieten sich solche Methoden besonders für die Diagnose von Netzhauterkrankungen an. Denn gerade hier gibt es nicht invasive bildgebende Verfahren, mit denen Augenärzte Tag für Tag große Mengen an komplexen Daten gewinnen, die es auszuwerten gilt. Hier sind verschiedene sinnvolle Anwendungen denkbar.
Screening-Programme
Ein gutes Beispiel sind diabetische Augenerkrankungen. Diabetes mellitus ist eine Volkskrankheit, an der in Deutschland etwa 7,4 Millionen Menschen leiden. Etwa ein Drittel von ihnen weist krankhafte Veränderungen der Netzhaut auf und wiederum bei einem Drittel dieser Betroffenen ist das Sehvermögen durch die Zuckerkrankheit akut bedroht. Die diabetische Netzhauterkrankung ist die häufigste Erblindungsursache bei Menschen im erwerbsfähigen Alter in Deutschland. In vielen Fällen lässt sich die Erblindung verhindern, wenn die Menschen mit Diabetes mellitus regelmäßig ihren Augenhintergrund untersuchen lassen, auch wenn sie keinerlei Sehstörungen bemerken. So kann schon bei frühen Veränderungen die Behandlung rechtzeitig starten und die Sehkraft erhalten werden. Das bedeutet allerdings einen riesigen Aufwand, für die Patienten, die behandelnden Ärzte und die Gesellschaft.
Doch auch computergestützte Analysen von Netzhautfotografien können diabetische Netzhautveränderungen erkennen. Die US-amerikanische „Food and Drug Administration“ hat im vergangenen Jahr ein solches System als „break-through device“ anerkannt. Auch wenn dieses computergestützte Screening der Untersuchung durch den Augenarzt noch unterlegen ist, eröffnet es doch in Regionen mit mangelhafter augenärztlicher Versorgung die Möglichkeit, zu klären, welcher Patient rasch augenärztlich untersucht werden muss.
Ähnliche Screening-Verfahren sind denkbar, um andere Netzhautkrankheiten wie die Altersabhängige Makuladegeneration (AMD), den Grünen Star (Glaukom) oder die Frühgeborenenretinopathie schon im Frühstadium zu erkennen. Entsprechende Erprobungen sind bereits im Gange.
Im vergangenen Jahr veröffentlichte die Firma Google/Deep Mind zusammen mit dem Moorfields Eye Hospital, der größten Augenklinik Europas in London, die Ergebnisse ihrer Arbeiten. Sie entwickelten ein Programm, welches Schnittbilder des Augenhintergrundes (sogenannte Optische Kohärenztomographie, OCT) analysiert. Auch Laien können diese Bilder aufnehmen. Invasive Maßnahmen oder eine medikamentöse Erweiterung der Pupillen sind dafür nicht notwendig. Der Algorithmus erkannte, bei welchen Patienten der Verdacht auf eine Netzhautkrankheit bestand und eine dringende Abklärung durch einen Augenarzt erforderlich war. Der Computer war dabei genauso gut wie Netzhautspezialisten und wesentlich besser als Optometristen.
Therapiesteuerung
Nicht nur für die Diagnosefindung werden KI-Systeme eingesetzt. Sie haben auch das Potenzial, die Steuerung einer Therapie zu verbessern und den Krankheitsverlauf und den Behandlungserfolg vorherzusagen. So behandeln Augenärzte seit mehr als zehn Jahren die feuchte Makuladegeneration sehr erfolgreich durch wiederholte Medikamenteneingaben in das Auge. Die Entscheidung, wann wieder eine Behandlung erforderlich ist, wird dabei im Wesentlichen mit Hilfe von OCT-Bildern getroffen. „Deep Learning“ kann diese Bilder analysieren und eine Empfehlung für die Therapie aussprechen.
Personalisierte Medizin
Menschen und ihre Krankheiten sind individuell sehr unterschiedlich. Um Patienten auch individuell optimal behandeln zu können, spielen eine Vielzahl von unterschiedlichsten Faktoren eine Rolle, auch über die Grenzen der Fachdisziplinen hinaus. Eine personalisierte, auf den einzelnen Patienten genau zugeschnittene Medizin erfordert die Analyse verschiedenster großer Datenmengen. Ein Arzt kann deren einzelne Effekte nur schwer zusammen beurteilen. Auch hier liegt ein potenzielles Anwendungsgebiet der KI: Aus den verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten die für den individuellen Patienten beste Therapie zu finden.
Künstliche Intelligenz kann aber weit mehr. So war es möglich, allein durch die Analyse des Augenhintergrundes das Geschlecht, das Alter, die Rauchgewohnheiten und den Blutdruck von Probanden mit hoher Genauigkeit zu erkennen. So etwas kann selbst ein erfahrener Augenarzt nicht. Dieses Beispiel zeigt das Potenzial der Methode, das über bisher verfügbare Möglichkeiten hinausgeht.
Chancen und Risiken
Die Nutzung der künstlichen Intelligenz in der Medizin hat neben der fachlichen auch eine gesellschaftlich-ethische Dimension. Das große Interesse von Konzernen wie Google und ihr Engagement auf diesem Gebiet bergen auch Gefahren. Die massenhafte Analyse von Gesundheitsdaten greift in sehr sensible, persönliche Bereiche ein. Fotos des Augenhintergrundes sind individuell einmalig und nicht anonymisierbar, genauso wie genetische Daten. Es ist paradox: Datenschützer erwägen, uns dazu zu bringen, Patienten im Wartezimmer nicht mit Namen aufzurufen oder die Namen von Klingelschildern zu entfernen. Doch nicht anonymisierbare, höchst persönliche Gesundheitsdaten werden an Konzerne weitergegeben und der Betroffene hat kaum Möglichkeiten zu kontrollieren, was damit geschieht.
Ein weiteres Beispiel illustriert den potenziell missbräuchlichen Einsatz der KI: Anhand von Portraitfotografien kann ein Algorithmus mit hoher Wahrscheinlichkeit die sexuelle Orientierung der abgebildeten Person vorhersagen. Bei allen Anwendungen, die in den hochsensiblen Bereich der Gesundheit und Persönlichkeit eines Menschen eingreifen, müssen Ärzteschaft und Gesellschaft dafür sorgen, dass die Entwicklungen nicht dem Profit großer Konzerne dienen. Einzig die Patienten und das Gesundheitssystem dürfen davon profitieren.
Letztlich sind ärztliche Entscheidungen noch immer zu komplex, um sie komplett in Algorithmen auszudrücken. Die Computer-Algorithmen beruhen auf den vorgegebenen Trainingsdaten und sind anfällig für systematische Fehler. Die Auswertungen und Ergebnisse können nicht als Handlungsanweisungen interpretiert werden. Zudem gehen in den ärztlichen Entscheidungsfindungsprozess viele Faktoren ein, nicht nur die Daten, die sich in einen Computer eingeben lassen. Empathie, psychologisches Gespür und das sensible „Erspüren“ der Wünsche der Patienten – diese Kompetenzen wird KI vermutlich nie erreichen. Sie wird den Arzt nicht überflüssig machen, sondern ihn unterstützen. Künstliche Intelligenz wird aber das ärztliche Handeln verändern, vor allem in Bereichen der bildgebenden Diagnostik und des Screenings. Daraus ergibt sich die Chance, dass mehr Zeit für die persönliche Zuwendung und das Gespräch zwischen Arzt und Patient gewonnen wird.
Fazit
Künstliche Intelligenz verändert die Medizin und damit auch die Augenheilkunde. Es hat keinen Sinn, sich ängstlich dagegen zu sträuben. Vielmehr sind Augenärzte gefordert, diese Neuentwicklungen selbst mit zu steuern, die Chancen, die sich daraus ergeben zu nutzen und die Gefahren, die damit verbunden sind, abzuwehren.
Abb.1 Aus diesem Bild des Augenhintergrundes kann ein Computer Informationen über Alter, Geschlecht, Blutdruck, Blutzucker und Rauchgewohnheiten des Menschen ablesen. Selbst ein erfahrener Augenarzt kann das nicht.
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